Blutrausch - Der erste Fall für Anna Jäger

Bruthöhle - Der zweite Fall für Anna Jäger

Bestrafung - Der dritte Fall für Anna Jäger

Bedrängnis - Der vierte Fall für Anna Jäger


 

Blutrausch

 

Der erste Fall für Anna Jäger

 

Anna Jäger, Ermittlerin bei der Mordkommission Berlin, freut sich auf ihren wohlverdienten Urlaub. Aber ein Anruf ihres Chefs durchkreuzt ihre Pläne. Seine Nichte Christine wurde gerade ermordet im Tiergarten gefunden. Ein schreckliches Bild erwartet beide beim Fundort. Man hat Christine vollkommen ausbluten lassen. Und sie bleibt nicht das einzige Opfer. Der Mörder will mehr Blut. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt.

 

Softcover  (Taschenbuch)                                         eBook

Seitenzahl: 248 Seite

 

 

Preis:          7,99 €                                                         Preis: 3,99 €

 

Leseprobe: Blutrausch

Kapitel 1

 

Tom

 

   Er sah sie und erkannte augenblicklich, dass sie die Richtige war. Sie schien perfekt, das spürte er. Unauffällig beobachtete er sie. Unsicher schaute sie sich um, dann steuerte sie direkt auf die Bar zu. Die Frau passte genau in sein Beuteschema. Sie war groß und blond. Das mochte er. Ihre Haut wirkte blass, was ihr sehr gut stand. Solarium gebräunte Tussen fand er einfach nur schrecklich und billig. Aber sie war ganz anders, so rein und unschuldig. Das sah er ihr sofort an, auch wenn der Rock viel zu kurz war und das Top mehr zeigte, als es verhüllen sollte. Das Haar hatte sie toupiert und ihr Make-up fiel definitiv zu üppig aus. Er wusste, dass es nur eine Maske war, hinter der sie sich zu verstecken versuchte.

   Es stellte sich also doch als eine sehr gute Entscheidung heraus, wieder in diese Kneipe zu gehen. Damit hatte er gar nicht gerechnet. Vorsichtig sollte er trotzdem sein. Er durfte keineswegs auffallen. Er bestellte sich noch eine Cola und beobachtete sie weiter. Nervös nippte an ihrem Glas Martini.

   Endlich! Sie schaute zu ihm herüber. Jetzt begann das Spiel. Er lächelte sie an und wartete auf ihre Reaktion. Die junge Frau am Tresen erwiderte kurz sein Lächeln und blickte rasch in die andere Richtung. Irgendwie war das süß. Sie hatte absolut keine Ahnung, wem sie da zulächelte und was er gleich mit ihr anstellen würde. Er freute sich darauf. Ein Kribbeln durchlief seinen Körper. Das Warten fiel ihm schwer. Es verzehrte ihn, gleichwohl hatte er keine andere Wahl, als sich noch einen Moment zu gedulden. Einen Fehler durfte er sich jetzt nicht erlauben. In ein paar Minuten bereitete sie ihm die Freude, nach der er sich so sehr sehnte.

 

Christine

 

   Erneut trafen sich ihre Blicke. Geschah es zum zweiten oder zum dritten Mal? Es erweckte den Anschein, dass es sich nicht nur um ein Versehen handelte. Er hatte ihr definitiv direkt in die Augen geblickt und sie dabei angelächelt. Es schien doch keine so schlechte Idee zu sein, heute Abend auf die Piste zu gehen. Zwar ging sie zum ersten Mal ohne Begleitung in eine Bar, aber schließlich gab es für Alles ein erstes Mal. Mittlerweile lebte sie in der Hauptstadt und nicht mehr in der Provinz. Endlich konnte sie das wahre Leben genießen. Ihr Motiv heute Abend war zwar ein anderes. Daran wollte sie im Moment nicht denken, sondern nur vergessen. Wenn sie an den Wochenenden zu Hause ausging, kannte jeder jeden. Hier kannte sie niemanden und niemand kannte sie. Das hatte schon einen besonderen Reiz. Und so, wie es momentan aussah, würde sie es nicht bereuen. Eine Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht. Das Haarspray hatte definitiv versagt. Der Typ schaute erneut zu ihr herüber. Christine wickelte aufgeregt die Strähne um ihre Finger. Sie hatte stundenlang nach den passenden Klamotten gesucht und eine halbe Ewigkeit für ihr Make-up gebraucht. Sich so herauszuputzen, war eine ganz neue Erfahrung für sie. Sie fühlte sich erwachsener. Die weibliche Konkurrenz schien überschaubar und nicht berauschend zu sein. Umso günstiger für sie. Für einen kurzen Augenblick fragte sie sich, was sie eigentlich hier machte. Ihr Blick schweifte durch die Bar, die noch relativ leer war und blieb an einem Pärchen hängen.

   Prompt erinnerte sie sich. Mike, flutete es in ihr empor. Dieses miese Schwein! Sollte er doch mit der blöden Susi glücklich werden. Nein, das sollte er nicht. Besser wäre es, ihm würde der Schwanz abfaulen. Wütend drehte sie ihr Glas so schnell in der Hand, dass es überschwappte. Schade um die verschütteten Tropfen Martini. Gerührt oder geschüttelt, völlig egal, dachte Christine. Hauptsache sie wurde etwas lockerer. Sie trank hastig einen Schluck und versuchte, ihre Wut hinunterzuspülen.

   Über den Rand des Glases hinweg, spähte sie hinüber zu dem Mann am Tresen. Sie saß bereits eine halbe Stunde an ihrem Tisch und beobachtete ihn möglichst unauffällig. Bisher machte es nicht den Anschein, dass er in Begleitung war oder auf jemanden wartete. Sie leckte sich einen Tropfen Martini von den Lippen und riskierte einen weiteren Blick.

   Der gutaussehende Typ hatte ihr eben tatsächlich zugezwinkert. Was sollte sie jetzt tun? Ihm zurückzwinkern, ihm zuprosten? Es sollte gut überlegt sein. Schließlich wollte sie nicht billig und aufdringlich wirken. Ehe sie sich eine angemessene Antwort überlegen konnte, stand er bereits direkt neben ihr.

   „Hallo. Ist der Platz frei?“, fragte er sie und schaute sie an. Es waren die schönsten grünen Augen, in die sie je geblickt hatte. Ihr Herz schlug bis zum Hals und war extrem trocken.

   „Sicher“, krächzte sie. 

   „Danke. Ich bin Tom“, erwiderte ihr Gegenüber und setzte sich zu ihr. „Bist du zum ersten Mal hier?“

   Sie nickte nur und starrte ihn weiterhin an. Diese Augen faszinierten sie. Sie kniff sich kräftig in den Oberschenkel. Da saß der tollste Typ vor ihr und sie benahm sich wie ein pubertierendes Schulmädchen. Nervös nippte sie an ihrem Glas Martini, obwohl das fast leer war. Der letzte Tropfen rann über ihre Zunge.

   „Möchtest du noch einen Drink?“, fragte Tom aufmerksam. Christine nickte erneut. Er lächelte sie charmant an und ging zum Tresen. Schnell kramte sie ihren Handspiegel und den Lippenstift aus der Tasche. Eigentlich hatte sie noch genug Rot auf den Lippen, aber sie musste sich irgendwie beschäftigen. Kaum hatte sie ihre Utensilien wieder verstaut, kam er zurück. Er drückte ihr das Glas Martini in die Hand, für sich hatte er ebenfalls eines mitgebracht.

   „Na dann zum Wohl. Auf einen schönen Abend.“

   „Zum Wohl, Tom“, antwortete sie und leerte in einem Zug das Glas. Kaum etwas später zeigte der Alkohol bereits seine Wirkung. Ihre Wangen glühten und sie fühlte sich herrlich beschwipst. Außer zu Geburtstagen oder ähnlichen Anlässen trank sie sonst nie etwas. Egal. Sie wollte heute ihren Spaß haben und einmal keine verklemmte Trulla vom Dorf sein. So hatte Mike sie betitelt, als er mit ihr Schluss gemacht hatte.

   Nervös kaute Christine auf der Haarsträhne herum, die ihr noch immer ins Gesicht hing. Ihr Traumtyp fand es scheinbar sehr amüsant und grinste sie frech an.

   „Sorry, aber das ist sonst wirklich nicht meine Art, aber ich hatte in letzter Zeit echt wahnsinnig viel Stress. Mein Freund, dieser Mistkerl, hat mich vor kurzem mit meiner besten Freundin betrogen.“ Das letzte Glas Martini hatte nicht nur ihre Nervosität weggeblasen, sondern auch ihre Zunge gelockert. Sie erzählte ihm ihre halbe Lebensgeschichte und ihr Gegenüber hörte aufmerksam zu. Es fiel ihr gar nicht auf, dass sie die ganze Zeit einen Monolog hielt und er überhaupt nichts sagte. Sie fühlte sich einfach gut und dachte nicht an Mike. Vor ihr saß ein umwerfender Mann, der sie anstrahlte.

   Tom stand plötzlich auf, küsste sie auf die Stirn und ging noch einmal zur Bar, um Getränkenachschub zu holen. Sie schaute ihm nach und musste ein Seufzen unterdrücken. Was für ein knackiger Hintern! Wow, was für ein genialer Abend, dachte sie, als er ihr das neue Glas reichte. Sie trank einen großen Schluck und lächelte ihn an. Ob er nur so nett zu ihr war, weil er einen One-Night-Stand wollte? So etwas hatte sie noch nie gemacht. Ach, für alles gab es schließlich ein erstes Mal. Wenn dieser gutaussehende Typ dafür sorgen würde, dann sollte es ihr nur recht sein.

   Mit einem Mal fühlte sie sich schrecklich müde und erschöpft. Sie hatte doch nur drei Martini getrunken. Christine wurde schwindelig und alles um sie herum begann sich zu drehen, obwohl sie auf dem Stuhl saß. Sie hatte den Eindruck, dass sich ihr Magen gleich umdrehen würde. Sie stützte ihre Ellenbogen auf dem Tisch ab und legte den Kopf in ihre Hände. Es wurde nicht besser. Sie glaubte, sich in einem Karussell zu befinden, das rückwärts fuhr.

   „Ist alles in Ordnung mit dir?“ Die Frage hallte laut durch Christines Kopf.

   „Ich glaube, der letzte Martini war zu viel“, brachte sie lallend hervor. Ihr Kopf dröhnte und sie nahm ihre Umgebung nur noch verschwommen wahr. Sie blinzelte, rieb sich die Augen. Das half nicht viel. Der Typ mit den grünen Augen schien sie besorgt anzuschauen. Sie versuchte, sich an seinen Namen zu erinnern.

   „Vielleicht sollte ich dich kurz an die frische Luft bringen. Dann geht es dir bestimmt gleich wieder besser.“ Er half ihr beim Aufstehen.

   „Ja, das wird sicher helfen.“ Wie in Trance hakte sie sich bei ihm ein und ließ sich nach draußen führen. Da begegnete ihr endlich der Mann ihrer Träume und dann passierte ihr so etwas Peinliches. Sie wollte jetzt nur nach Hause und schlafen.

   Die Bar war mittlerweile gut gefüllt und sie mussten sich durch die Menge kämpfen. Endlich hatten sie sich durch die Leute gearbeitet und sie spürte die frische, kühle Nachtluft. Sie atmete tief ein, doch sie fühlte sich noch schwächer. Was war hier los? Sie wollte sich einfach nur hinsetzen oder besser noch hinlegen, das ließ er aber nicht zu.

   Verschwommen nahm Christine wahr, dass er sie weiter die Straße hinunterführte. „Warte bitte. Wo willst du hin? Ich kann nicht mehr“, jammerte sie und versuchte verzweifelt, sich auf den Beinen zu halten. Tom war sein Name. Es fiel ihr auf einmal wieder ein. „Tom, bitte. Ich muss mich hinsetzen“, flehte sie. Tom zog heftiger an ihr. Irgendetwas stimmte hier nicht. Ganz und gar nicht. Schlagartig wurde ihr Kopf klarer. Wie eine schrille Alarmsirene heulte es in ihrem Hirn. Adrenalin schoss durch ihren Körper. Panisch versuchte sie, sich von ihm loszureißen.

   „Lass mich sofort los!“, brüllte sie den Mann an. Sie zappelte wie verrückt, in der Hoffnung, ihn so abzuschütteln. Er wirbelte sie herum und sie sah direkt in seine grünen Augen. Jetzt fand sie diese Augen überhaupt nicht mehr schön. Sein Blick flößte der jungen Frau Angst ein. Da war nichts Nettes oder Sympathisches mehr. Noch einmal probierte sie, sich aus seinem eisernen Griff zu befreien. Das Letzte, was sie sah, war seine Faust, die rasend schnell auf ihr Gesicht zu kam und hart gegen ihren Kiefer knallte. Dunkelheit.

Tom

 

   Es war doch zu einfach. Ihr unschuldiger Blick hatte ihm gezeigt, dass sie sich verletzt fühlte und einfach nur aus Frust etwas Party machen wollte. Zwei kurze Blicke, ein nettes Lächeln und drei Martini hatten ihn seinem Ziel nähergebracht. Na gut, er hatte beim zweiten Glas etwas nachgeholfen. Ein paar K.O. Tropfen, die er ihr heimlich ins Getränk gegeben hatte. Trotz ständiger Warnungen ließen sich die Weiber immer wieder von wildfremden Männern teure Drinks ausgeben.

   Letztendlich kam ihm diese Naivität doch zugute. Selber schuld, wenn sie es ihm so einfach machten. Und das Zeug hatte ziemlich schnell bei ihr gewirkt. Viel länger hätte er das Gelaber von ihrem bescheuerten Ex auch gar nicht mehr ertragen können. Dieser Typ würde sicherlich seine Gründe gehabt haben, sie abzuservieren.

   Niemand in der Bar hatte sich gewundert, dass er sie fast heraustragen musste. Schließlich konnte es vorkommen, dass man einen über den Durst trank. Erst jetzt, auf dem letzten Stückchen, machte sie tatsächlich Probleme. Sie hatte es gewagt, sich zu wehren. Dieses kleine Luder war wirklich verdammt zäh. Doch er würde sie nicht entkommen lassen. Sie gehörte jetzt ihm.

 

Christine

 

   Christine kam langsam wieder zu sich. Sie stöhnte und rieb sich den Kiefer, während er sie weiter mit sich schleifte. Ob ihr Kiefer gebrochen war? Sie wusste nicht, wie sich das anfühlte. Jedenfalls tat es höllisch weh. Der Schlag hatte sie so heftig getroffen, dass sie kein Wort herausbringen konnte. Sie wollte schreien, aber kein Laut kam aus ihrer Kehle. Panik stieg in ihr auf. Dieser verrückte Typ würde ihr sicher etwas antun. Tränen schossen aus ihren Augen und liefen über das Gesicht.

   Einen kurzen Moment dachte sie an ihr Make-up, das sicher komplett verlaufen war. Irgendwie machte dieser absurde Gedanke sie wieder etwas munterer. Sie verdrängte den schmerzenden Kiefer.

   Christine nahm nur Dunkelheit wahr. Wenn sie nicht bald etwas unternahm, wäre dies sicherlich ihr Ende. Aber dieser Kerl war kräftig und sie noch immer ziemlich benommen.

   Sie konzentrierte sich auf ihre Umgebung. Kein Mensch kam ihnen entgegen, sie wusste nicht einmal, wo sie überhaupt waren. Es roch nach nassem Rasen und nach Bäumen. Kies knirschte unter ihren Schuhen. Das war nicht gut. Ein Wald oder Park. Hier würde ihr um diese Uhrzeit niemand zu Hilfe kommen, wenn sie jetzt schrie.

   Verzweifelt versuchte sie, sich daran zu erinnern, was sie im Selbstverteidigungskurs im letzten Jahr gelernt hatte. Sie hätte damals nie gedacht, dass sie dies irgendwann einmal brauchen würde. Aber ihre Mutter hatte darauf bestanden, bevor sie ihr Studium in Berlin begann. Wie war das noch gleich? Erst ein gezielter Schlag auf den Solarplexus, dann ein kräftiger Schlag mit dem Handballen unters Kinn. Und zur Krönung ein ordentlicher Tritt zwischen die Beine.

   Wie sollte sie das schaffen? Egal, Grübeln half jetzt nicht weiter. Sie musste endlich handeln. Sie wusste, dass sie ihm körperlich vollkommen unterlegen war. Aber die Zeit lief ihr davon. Ihr blieb nur noch eine Chance. Sie holte tief Luft. Dann machte sie sich plötzlich steif, sammelte all ihre Kraft und riss sich mit einer Drehung aus seinem festen Griff.

   Christine spürte, dass ihr Angreifer irritiert und überrascht war. Jetzt oder nie. Sie drehte sich schnell zurück zu ihm, holte aus und traf ihn mit der ausgestreckten Faust an der Brust. Verdammt! Daneben! Scheiße! In diesem blöden Kurs war es so einfach gewesen.

   Aber zumindest taumelte der Scheißkerl für einen kurzen Augenblick, welchen sie nutzte, um ihm ihre Faust unter das Kinn zu knallen. Treffer!

   Weglaufen. Das war das, was ihr Onkel ihr für solche Situationen ständig eingebläut hatte. Ohne sich noch einmal umzudrehen, rannte sie los. Zum Glück brachte der Vollmond etwas Licht, so dass sie nicht völlig im Dunkeln umherirrte. Aber das würde nicht nur ihr helfen. Mist. Sie musste runter vom Weg. Wie ein Kaninchen rannte sie kreuz und quer durch das Gebüsch. Nur nicht geradeaus laufen. Zweige schlugen ihr ins Gesicht, zerkratzen ihre Hände und rissen ihr die Strumpfhose kaputt.

   Alles egal. Einfach weiter. Irgendwann musste sie doch wieder auf die Straße stoßen. Tausend Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf. Dieses Schwein musste ihr etwas in das Glas Martini getan haben. Wie konnte sie nur so doof sein und glauben, dass der Kerl ernsthafte Absichten hatte und einfach nur ein netter Typ war.

   Aber so einfach würde sie sich nicht vergewaltigen oder abschlachten lassen. Sie war ihm entkommen und musste nur noch einen Weg aus diesem verdammten Park finden. Sie war hier in Berlin und nicht auf dem Dorf.

   Vielleicht sollte sie laut Feuer schreien. Davon nahmen die Menschen eher Notiz. Aber solange sie nicht wusste, wie weit die Straße noch entfernt war, würde das nur seine Aufmerksamkeit auf sie lenken.  Sie musste aufpassen, dass sie nicht über eine Wurzel stolperte oder gegen einen Baum rannte. Ihr Kiefer schmerzte fürchterlich und sie konnte kaum noch atmen. Das Adrenalin, was sie anfangs aufgeputscht hatte, reichte nun nicht mehr. Sie spürte, wie sie immer langsamer wurde. Ihre Beine fühlten sich zunehmend schwerer an. Sie schaffte es kaum noch, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Nein, bitte nicht!

   Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie konnte es nicht kontrollieren. Für einen kurzen Augenblick musste sie einfach stehen bleiben. Christine atmete tief ein und versuchte, sich etwas zu beruhigen. Sie lauschte und konnte ihr eigenes Blut in den Ohren rauschen hören. Sie betete, dass sie ihn abgehängt hatte.

   Hörte sie da Schritte hinter sich? Knirschenden Kies? Sie hielt den Atem an und konnte nicht sagen, wie lange sie schon gelaufen war, geschweige denn, wo sie sich gerade befand. War sie wieder in der Nähe des Weges? Erneut schaute sie sich um, konnte aber nichts erkennen. Da war es wieder. Ein leises Knacken links von ihr. Schnell sprang Christine nach rechts, duckte sich und kroch unter ein Gebüsch. Sie versuchte, sich so klein, wie nur möglich zu machen. Sie zog ihre Knie fest an den Körper und atmete so leise und flach sie konnte. Um sie herum war es nun wieder still. Sie hockte da und wartete. Die junge Frau musste dagegen ankämpfen, sich einfach hierher zu legen und zu schlafen. Sie war so schrecklich müde. Aber sie durfte jetzt nicht aufgeben. Sie musste zur Straße. Ihr ganzer Körper zitterte vor Kälte. Das machte ihre Situation nicht besser. Sie musste sich endlich entscheiden.

   Vielleicht sollte sie wieder den Weg suchen, der würde sie sicher früher oder später hier herausführen. Zumindest schien es ihr logischer, als stundenlang durchs Gebüsch zu kriechen. Sie atmete mehrfach tief ein, das machte sie etwas munterer. Dann wartete sie noch Moment. Es blieb still. Vorsichtig kroch sie auf allen Vieren unter dem Busch hervor. Sie sah und hörte nichts Verdächtiges. Das war schon einmal gut.

   Eine ganze Weile irrte sie durch den Park. Mittlerweile schmerzten ihre Füße. Endlich hatte sie den Weg gefunden. Sollte sie ihm links oder rechts entlang folgen? Sie entschied sich für links, dort waren mehr Bäume, nur für den Notfall. Zum Rennen war sie zu schwach, also musste sie langsam schleichen. Bloß keine Geräusche machen! Sie blieb kurz stehen. Auch auf die Gefahr, dass sie frieren würde, wollte sie ihre unbequemen Schuhe auszuziehen.

   Plötzlich packte sie jemand von hinten und riss sie herum. Sie wollte gerade ihr Knie heben, als sie erneut seine Faust traf. Dieses Mal an der Schläfe. Sie fiel nach hinten und Dunkelheit hüllte sie ein.

 

Tom

 

   Seine Fingerknöchel schmerzten. Dieses Miststück hatte es tatsächlich gewagt, ihn anzugreifen. Offensichtlich hätte er ihr ein paar Tropfen mehr geben sollen. Egal. Er hatte es schließlich bis in den Park geschafft. Eigentlich fand er es doch ganz amüsant. So ganz ohne Gegenwehr wäre es ja auch langweilig gewesen.

   Jetzt war sie definitiv ausgeknockt. Zum Glück war ihnen niemand auf dem Weg in den Tiergarten begegnet. Es war bereits zwei Uhr morgens, dunkel und still. Vorsichtshalber zog er sie auf eine kleine Lichtung, etwas abseits vom Weg, die von Rhododendren umgeben war. Bewusstlos lag sie nun vor ihm auf dem Boden. Er kniete sich neben sie und strich ihr das Haar aus dem Gesicht.

   Eigentlich war sie ja ganz hübsch, wenn die viele Schminke nicht wäre. Weiber, dachte er abfällig. Wieso waren Frauen immer der Meinung, dass Männer auf so viel Make-up standen? Er fand es einfach nur furchtbar. Natürlichkeit war doch wesentlich attraktiver.

   Er beobachtete, wie sich ihr Brustkorb langsam hob und senkte. Bald würde er dabei zuschauen, wie er sich ein letztes Mal senkte.

   Sein Blick wanderte weiter nach unten. Ihre Strumpfhose war zerrissen und der Rock etwas nach oben gerutscht. Er zog ihn herunter. Das war nicht das, was er von ihr wollte. Von ihr wollte er etwas ganz Besonderes. Er sollte sich langsam beeilen, bevor sie zu sich käme.

   Schnell holte er den Beutel aus der Innentasche seiner Jacke. Er liebte es, gut vorbereitet zu sein. Alles sollte perfekt sein. Er öffnete den Stoffbeutel und nahm eine kleine Box heraus. Vorsichtig machte er sie auf und blickte auf den silbern schimmernden Inhalt. Es war eine Prothese, ein Aufsatz für seine Zähne. Er betrachtete sie voller Stolz. Sie schimmerte herrlich, selbst bei dem schwachen Licht, das der Mond brachte.

   Seine Arbeit war vollkommen. Die Prothese hatte er maßgefertigt, nach einem Abdruck seines Oberkiefers. Er steckte doch voller Talente. Gleich war es soweit. Aufgeregt schob er sie auf seine Zähne. Sie saß makellos. Seine Eckzähne waren nun fast doppelt so lang. Spitz und scharf wie eine Rasierklinge. Ihm wurde heiß und kalt. Angenehme Schauer liefen ihm über den Rücken. Wo sollte er heute zuerst zubeißen? Er nahm ihr rechtes Handgelenk und küsste es. Leckte genüsslich darüber und saugte daran. Dann biss er zu. Er spürte, wie die Haut langsam nachgab. Ein ganz leises Knacken folgte, welches er mehr spürte als hörte. Aber das reichte ihm nicht. Es trieb ihn an, weiter zu machen. Er war noch nicht am Ziel. Erneut grub er seine Zähne in die weiche Haut. Nun etwas tiefer. Endlich. Dieses Mal hatte er eine Vene getroffen.

   Er spürte und schmeckte es sofort. Behutsam zog er den Zahn zurück. Langsam sickerte das Blut aus der Wunde. Er leckte vorsichtig über den künstlichen Eckzahn. Er liebte diesen metallischen und lieblichen Geschmack. Anders ließ es sich nicht beschreiben. Es war einfach wunderbar und genial.

Erneut kostete er vom Blut ihres Handgelenkes. Er konnte einfach nicht genug kriegen. Das war besser als Sex, viel verbundener und inniger, wenn er ihr Blut trank.

   Mit dem scharfen Eckzahn riss er ihr Handgelenk mehrfach längs auf. Er glitt mühelos durch die Haut, das Gewebe und die Gefäße. Frisches Blut lief über seine Lippen. Eifrig saugte und leckte er an ihrem Handgelenk. Mit jedem Herzschlag seines Opfers drang ein kleiner Schwall ihres Blutes in seinen Mund. Es war wunderbar, aber er wollte noch mehr. Also wandte er sich ihrem linken Handgelenk zu. Dieselbe Prozedur, wie eben zuvor. Er genoss jeden einzelnen Moment.

   Nachdem er auch hier gekostet hatte, beugte er sich über sie und drehte ihren Kopf sanft zur Seite. Sie stöhnte zwar leise, doch sie würde sicher nicht aufwachen. Sie verlor langsam immer mehr Blut, das schwächte sie allmählich. Zu sehen, wie das Blut aus ihrem Körper rann, erregte ihn. Es lief langsam über ihre Handgelenke und bildete jeweils eine kleine Pfütze auf dem Boden. Der Vollmond brachte nun etwas mehr Licht, so dass er es genau sehen konnte.

   Heute war alles perfekt, so wie er es sich immer erträumt hatte. Eigentlich war es reine Verschwendung, dass das Blut im Boden versickerte. Er wollte jetzt eine neue, reine Stelle, die ihn befriedigen würde. Der Geruch von frischem Blut machte ihn fast wahnsinnig. So rein, so natürlich, so voll von purem Geschmack. Das brauchte er jetzt. Fast zärtlich streichelte er über den Hals seines Opfers. Gleich war es so weit. Er betrachte seine Hand, die noch auf ihrem Hals lag. Sein Blick blieb auf dem Ring hängen. Er streifte den Silberring vom Finger und betrachtete ihn im Licht des Mondes. Das Schmuckstück lief nach oben spitz zu und war scharf wie ein Rasiermesser. Genau so präzise gearbeitet wie die Zahnprothese.  Mit Zeigefinger und Mittelfinger fühlte er nach ihrer Halsschlagader. Ganz schwach spürte er den Puls unter seinen Fingern. Er zitterte vor lauter Erregung. Dann setzte er den Ring an und trieb die Spitze schnell und tief in ihre Haut. Er musste sich beeilen, denn jetzt würde es schnell gehen. In einer kleinen Phiole sammelte er ein paar Tropfen ihres Blutes. Diese verschloss er sorgfältig und verstaute sie in seiner Jackentasche.

   Er beugte sich ganz nah an ihren Hals, atmete tief den Duft ein, bevor er den Ring aus der Wunde zog. Für einen kurzen Moment betrachtete er das noch kleine Rinnsal, das sich auf ihrem Hals bildete. Rasch drückte er seine Lippen auf die blutende Wunde. Er leckte und sog und spürte, wie sich sein Mund mit der warmen Flüssigkeit füllte. Es war wie ein Rausch und er konnte nicht genug bekommen. Seine Zähne rissen sich durch ihre Haut. Immer mehr von dem köstlichen Blut strömte durch seine Lippen. Seine Zunge tanzte vor lauter Freude. Dann riss er sich los. Er hatte genug. Nun war es Zeit, die Sache zu beenden. Erneut setzte er den Ring an, dieses Mal etwas tiefer. Mit einem leisen Knacken durchstieß er die Haut und das Gefäß. Schnell rutschte er etwas zurück. Das Blut schoss jetzt regelrecht aus der Wunde. Bald würde es vorbei sein. Eilig packte er Ring und Zahnprothese zurück in den Beutel.

   Er stand auf und betrachtete sein Werk noch einen Momente. Ihr Brustkorb senkte sich ein letztes Mal. Er lächelte zufrieden und ging.


Bruthöhle

 

Der zweite Fall für Anna Jäger

 

Ein totes Baby und ein entführtes Mädchen. So hat sich Anna Jäger, Ermittlerin der Mordkommission Berlin, ihren wohlverdienten Urlaub nicht vorgestellt. Natürlich unterstützt sie ihren Vater und das altes Team bei den Ermittlungen und muss schnell feststellen, dass dies erst der Anfang ist. Dann wird auch noch die Tochter von Annas bester Freundin entführt …

 

Softcover  (Taschenbuch)                                                  eBook

Seitenzahl: 270 Seiten

 

 

Preis:          9,62 €                                                                  Preis: 3,99 €

Leseprobe: Bruthöhle

Kapitel 1

 

Lisa

 

   Dunkelheit und Stille umgaben sie. Lisa lag auf einem fremden Bett, als sie aufwachte. Sie wusste weder, wo sie war, noch, wie sie eigentlich hierher gelangt war. Soviel hatte sie doch gar nicht getrunken. Sie waren zu fünft und hatten sich eine Flasche Rum, gemixt mit Cola, geteilt. Ihre Eltern würden sicher ausflippen, wenn sie schon wieder nicht pünktlich nach Hause kam.

   Es war Sonntag und Lisa hatte versprochen, dass sie um zehn im Bett sein würde. Das würde sicher lebenslangen Hausarrest geben. Lisa versuchte aufzustehen. Prompt wurde ihr schwindelig. Vorsichtig tastete sie um sich. Sie ging drei Schritte, weiter kam sie nicht. Erst jetzt bemerkte sie die Fessel um ihren Knöchel. Scheiße, was war denn hier los?

   War das etwa Leonies Rache dafür, dass sie letzten Monat einmal mit Kevin geknutscht hatte?

Das war doch nur Spaß gewesen. Keiner hatte es ernst gemeint. Sie wollte Leonie doch nur etwas aufziehen.

   „Leonie, warst du das? Was soll der Blödsinn. Wo seid ihr? Kommt endlich raus!“, rief sie laut in die Dunkelheit. Aber ihre Freundin antwortete nicht. Panisch riss Lisa an der Kette und versuchte, sich so davon zu befreien. Aber die Kette war stabil und hielt. Lisa taumelte zurück und landete wieder auf dem Bett. Ihr Handy. Wo war ihr Handy? Sie hatte es vorhin noch in der Jackentasche gehabt. Da war es nicht mehr. Das war absolut nicht lustig.

   „Leonie, du blöde Kuh. Es reicht mir jetzt. Hört sofort auf mit dem Mist! Ich muss nach Hause.“ Lisa wartete. Wieder keine Antwort. Ihr Puls begann zu rasen.

Was, wenn Leonie gar nicht hier war? Lisa bekam langsam Angst. Sie hatten sich ja schon einige böse Streiche gespielt, aber das hier war anders.

   „Hallo?“, rief sie. „Ist hier jemand?“ Lisa lauschte. Sie war sich sicher, eben etwas gehört zu haben. „Hilfe!“, schrie sie jetzt, so laut sie konnte. Da war es wieder. Lisa war sich ziemlich sicher, ein leises Schluchzen gehört zu haben.

   „Hallo? Bitte antworte mir, wenn du mich hören kannst.“ Irgendwie war Lisa jetzt etwas beruhigt. Sie war nicht allein hier. „Wer bist du?“

   „Psst, sei bitte leise. Sonst kommt er und bestraft dich“, sagte die Stimme leise.

   „Wer bist du?“, wiederholte Lisa ihre Frage.

   „Ich heiße Franziska. Und jetzt sei bitte still“, antwortete die Stimme.

Was war hier los? Plötzlich hörte Lisa Schritte. Das andere Mädchen begann zu weinen.

 

Anna

 

   Es war Dienstagmorgen und Anna warf noch schnell ein paar Sachen in den Koffer. Die letzten Tage waren das reinste Chaos gewesen und sie brauchte den Urlaub jetzt mehr als dringend. Der Mörder von Christine und den anderen Frauen war tot. Nur dumm, dass es Annas Freund Paul gewesen war. Wenn sie ehrlich war, konnte sie es noch immer nicht verstehen. Jetzt war es vorbei und sie würde es einfach hinter sich lassen.

   Anna hatte vorhin noch schnell ihre Aussage gemacht, den Bericht geschrieben und sich von den Kollegen verabschiedet. Vorsichtshalber hatte sie ihr Diensthandy ausgeschaltet und ganz unten im Koffer verstaut. Wolfgang hatte darauf bestanden, dass sie sofort nach der Entlassung aus dem Krankenhaus, endlich in den wohlverdienten Urlaub fuhr. Er und Carsten würden also eine Weile auf sie verzichten müssen. Und Alexander ebenfalls. Anna konnte allerdings nicht sagen, ob sie Alex vermissen würde. Seit dem Abend, an dem sie sich geküsst hatten, waren sie sich aus dem Weg gegangen. Er hatte sie zwar im Krankenhaus besucht, aber sie wussten beide nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollten.

   Also stand jetzt erst einmal eine Woche Urlaub und Ausspannen auf dem Plan. Dann würde sie weitersehen. Nach dem grauenhaften Fiasko mit Paul hatte sie eigentlich gar keine Lust auf eine neue Beziehung. Sie wollte einfach nur den Kopf frei bekommen. Schnell fütterte sie noch die Kater und verabschiedete sich von Nadine, die wieder einmal nach ihrer Wohnung schauen würde.

   Anna warf ihren Koffer und die Tasche in den Kofferraum und machte sich auf den Weg. Die Straßen waren zum Glück frei. So kam sie ganz gut voran und war nach knapp anderthalb Stunden bereits auf der B6n. Den Rest der Strecke fuhr sie über Landstraßen und genoss es einfach nur. Die Sonne schien und überall konnte man schon die ersten Knospen an den Bäumen sehen. Die Vorgärten waren voll mit bunten Krokussen. In solchen Momenten bereute es Anna wieder, dass sie Berlin dem Harz vorgezogen hatte.

   Von weitem sah Anna schon die Teufelsmauer von Neinstedt. Seit langem war sie nicht mehr dort wandern gewesen. Nach knapp acht Kilometern parkte sie endlich in der Einfahrt ihrer Eltern. Es war schön, wieder zu Hause zu sein. Anna sah, dass die Gardine in der Küche wackelte und keine halbe Minute später, stand ihre Mutter bereits in der Haustür. Sie stieg aus dem Auto aus. Bevor sie etwas sagen konnte, war ihre Mutter bereits bei ihr und umarmte sie so fest, so dass Anna beinahe die Luft wegblieb.

   „Wie geht es dir?“ Diese Frage war eher rhetorisch. Ihre Mutter wusste bereits von der Sache mit Paul.

   „Es wird schon wieder werden“, antwortete Anna trotzdem und lächelte. Im nächsten Moment wurde sie von Klaus begrüßt. Beinahe überrannt, traf es wohl besser. Klaus war der altdeutsche Schäferhund ihres Vaters, der noch vor einem Jahr als Personenspürhund unterwegs gewesen war. Nun war er sozusagen in Rente. Er war jetzt sieben Jahre alt und hatte sich beim letzten Einsatz eine Verletzung am Hinterlauf zugezogen. Dafür war er trotzdem noch total fit und hätte sie jetzt beinahe umgeworfen.

   Anna konnte gerade noch das Gleichgewicht halten. Dann warf Klaus sich auf den Boden. Das war das Zeichen für Anna, dass sie ihm nun den Bauch zu kraulen hatte. Und Klaus würde nicht eher Ruhe geben, bevor sie ihren Job erfüllt hatte. Nach einer gefühlten halben Stunde stand er zufrieden auf. Annas Mutter schien sich köstlich zu amüsieren.

   „Jetzt machen wir erst einmal Pause Klaus. Wo steckt Papa denn?“, fragte Anna, während sie den Hund zur Seite schob und ihre Sachen aus dem Auto holte.

   „Er ist vorhin zur Arbeit gefahren.“

   „Ich dachte, er hat extra frei genommen?“, fragte Anna. Ihre Mutter schaute sie mit einem etwas leicht genervten Gesichtsausdruck an. „Es gibt wohl einen neuen Fall. Du solltest doch am besten wissen, wie das ist.“ Das war auch prompt die Spitze wegen Annas letzten abgesagten Urlaubs.

Ihr Vater arbeitete bei der Kripo in Halberstadt. Selbst nach fast vierzig Jahren war Annas Mutter wenig begeistert davon.

   „Worum geht es denn?“, wollte Anna natürlich wissen.

Annas Mutter schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Ahnung. Er hat nichts gesagt und ist einfach losgefahren. Jetzt komm doch erst einmal rein und trinke einen Kaffee.“ Anna nahm ihre Sachen und folgte ihrer Mutter. Klaus trottete hinterher. Natürlich gab es nicht nur Kaffee, sondern auch jede Menge Kuchen, den ihre Mutter extra gebacken hatte.

 

Lisa

 

   Die Schritte kamen immer näher und das Weinen des Mädchens ging in ein Schluchzen über. Lisa saß noch immer auf dem Bett. Sie zog instinktiv die Beine an den Körper und versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. Erleichtert hörte Lisa, wie die Schritte sich wieder entfernten. Eine Tür wurde geöffnet. Sie hielt den Atem an und lauschte.

   „Wieso heulst du? Habe ich dir nicht alles gegeben, was du brauchst?“ Eine dunkle Männerstimme schrie das andere Mädchen an. Lisa schrak zusammen.

   „Hör endlich auf zu flennen, sonst kommst du wieder in den Keller. Und das willst du doch sicher nicht, oder?“

   „Nein“, antwortete das Mädchen leise. „Wo ist mein Baby? Wohin habt ihr es gebracht?“ Obwohl Franziska sehr leise sprach, konnte Lisa sie verstehen. Was für ein Baby? Was meinte sie damit?

   „Es ist weg, weil es nicht gut genug war. Es war krank. Das ist schon das zweite Baby, das wir verloren haben. Ich denke, das liegt an dir. Und das ist nicht gut.“

   „Dann lass mich einfach gehen. Bitte, ich werde auch niemandem etwas sagen. Bitte lass mich gehen“, bettelte Franziska und begann wieder zu weinen.

   „Hör endlich auf damit. Du bist einfach nur erbärmlich“, schrie der Mann sie wieder an. Lisa hörte ein Geräusch, eine Art Klatschen. Der Mann musste sie geschlagen haben. Das Mädchen schluchzte jetzt fürchterlich. Lisa hielt sich die Hand vor den Mund. Am liebsten hätte sie selbst laut geschrien. Das Weinen des Mädchens wurde leiser. Lisa hörte erneut Schritte, die sich nun ihrem Zimmer näherten.

   Nein, das durfte doch nicht wahr sein. Was passierte hier? Sie zitterte am ganzen Körper und schloss die Augen. Sie wollte einfach nur nach Hause zu ihren Eltern. Plötzlich wurde es hell. Sie kniff weiterhin die Augen zu und wollte nichts sehen.

   „Willkommen Prinzessin. Schön, dass du endlich ausgeschlafen hast“, sagte der Mann zu ihr. Sie konnte spüren, wie er immer näherkam. Zusammengekauert saß sie auf dem Bett und wollte es nicht wahrhaben. Lisa zuckte zusammen, als er über ihr Haar strich. Dann legte er seinen Finger unter ihr Kinn und hob ihren Kopf leicht an.

   „Schau mich an“, sagte der Mann mit ruhiger Stimme. Zaghaft öffnete Lisa ihre Augen. Sie blinzelte, um sich an das helle Licht zu gewöhnen. Neben ihr saß ein Mann und lächelte sie an. Sein Alter konnte sie schlecht schätzen, aber er könnte ungefähr so alt wie ihre Eltern sein. Er hatte kurzes, blondes Haar und blaue Augen. Und er trug einen Anzug. Lisa war total verwirrt.

   „Wo bin ich hier und was haben Sie mit mir vor?“, fragte Lisa kaum hörbar. Er schaute sie eindringlich an.

   „Alles zu seiner Zeit, Prinzessin. Ich habe dir etwas zu Essen und Wasser gebracht. Das wird dir guttun. Lass es dir schmecken. Bis später.“

Der Mann stand auf und ging einfach. Erst jetzt sah Lisa die Metalltür. Er zog sie hinter sich zu und schloss ab. Lisa war nicht in der Lage, klar zu denken. Sie saß einfach nur da, starrte apathisch auf die Tür und wippte vor und zurück.

 

Anna

 

   Anna hatte es sich im Wohnzimmer auf der Couch gemütlich gemacht. Sie hatte definitiv zu viel Kuchen gegessen. Ihre Mutter bereitete währenddessen in der Küche schon das Abendessen vor.

   Eigentlich wollte Anna heute Abend ihre alte Schulfreundin Katja besuchen, aber von der langen Fahrt und dem vielen Kuchen war sie zu erschöpft. Also schickte sie ihr eine kurze Nachricht, dass sie sich Morgen zum Frühstück treffen würden. Katja antwortete prompt und war scheinbar ganz froh darüber. Wahrscheinlich machten ihre Kinder mal wieder Theater. Siebzehnjährige eineiige Zwillinge, Sarah und Sophie. Die beiden Mädchen hatten es, Katja zu Folge, faustdick hinter den Ohren. Sie liebten es, alle in ihrer Umgebung gehörig zu veräppeln, egal ob Eltern, Lehrer oder Freunde. Sicher hatte Katja dann Morgen wieder einiges zu berichten.

   Hin und wieder überkam Anna der Gedanke, dass sie auch gern Kinder gehabt hätte.

Aber es sollte nicht sein und sie hatte sich damit abgefunden. Nachdem was Katja ihr erzählt hatte, war sie manchmal auch ganz froh darüber. Außerdem war ihr Job nun einmal auch nicht unbedingt günstig. Das wusste sie aus eigener Erfahrung.

   Wie auch heute, war ihr Vater ständig unterwegs gewesen. Sie kannte es eigentlich nicht anders. Sie hatte immer gewusst, was ihr Vater leistete, und sich trotzdem dafür entschieden, dasselbe zu tun. Anna hörte eine Autotür, die zugeschlagen wurde. Das war sicher ihr Vater. Ihre Mutter fluchte in der Küche, als Anna sich von der Couch losriss. Wahrscheinlich hatte sich Klaus wieder einmal etwas vom Tisch stibitzt.

   „Hallo Papa, was gibt’s Neues?“, überfiel Anna ihren Vater, bevor er überhaupt seinen Mantel ausziehen konnte. „Um was geht es in dem neuen Fall?“ Annas Vater schien sichtlich überfordert mit ihrer Frage.

   „Lass mich doch erst einmal hereinkommen“, sagte er, stellte seine Tasche ab und nahm Anna dann in den Arm. „Ich frage lieber nicht, wie es dir geht. Jetzt hast du Zeit und Ruhe, um dich zu erholen. Aber zuerst wird gegessen, es duftet köstlich“, rief er in die Küche. Das hieß, Anna müsste sich bis nach dem Abendessen gedulden, bevor ihr Vater etwas über den neuen Fall erzählen konnte. Ihre Mutter duldete solche Gespräche nicht am Tisch.

   Anna folgte ihrem Vater ins Esszimmer, wo ihre Mutter bereits alles aufgetischt hatte. Selbst hier ließ sie sich nicht hineinpfuschen. Es gab Rinderfilet, Prinzessbohnen und Röstkartoffeln. Es schmeckte einfach herrlich und war kein Vergleich zu dem Essen, was es bei Anna sonst gab. Als Nachtisch servierte Monika Jäger Crème brûlée. Wenn das so weiterging, musste Anna Diät halten, wenn sie wieder zu Hause war. Nach dem Essen sprang sie auf und wollte den Tisch abräumen.

   „Nichts da, du hast Urlaub und brauchst Erholung.“ Ihre Mutter schien keinen Widerspruch zu dulden. „Ihr zwei marschiert jetzt in den Wintergarten und habt Zeit zum Reden. Ich sehe doch, dass du gleich vor Neugier platzt“, sagte sie zu Anna und grinste. Mit zwei Gläsern und einer Flasche Cognac bewaffnet, ging ihr Vater in den Wintergarten. Anna holte zwei Bier aus dem Kühlschrank und folgte ihm. Er schenkte beiden ein und setzte sich in den Rattan Sessel. Anna setzte sich ebenfalls.

   „Also Papa, was ist passiert?“ Sie konnte irgendwie spüren, dass ihr Vater nur ungern über den aktuellen Fall reden wollte. Sicher meinte er es nur gut, nach dem, was sie in der letzten Zeit durchgemacht hatte. Ihm war aber auch klar, dass seine Tochter nicht lockerlassen würde.

   Er trank noch einen Schluck aus dem Cognacglas. „Es ist irgendwie kompliziert. Eigentlich sind es zwei Fälle. Aber vielleicht gehören sie auch zusammen. Ich weiß es noch nicht genau.“

   „Nun erzähl schon“, drängte Anna ihren Vater.

   „Also gut, Sonntagmorgen haben Wanderer im Wald eine Babyleiche gefunden. Gemäß der Rechtsmedizin war es ein Frühchen, das kurz nach der Geburt gestorben ist. Die meinten, es war ein Wunder, dass es überhaupt geatmet hat. Eigentlich war es nicht lebensfähig. Also haben wir trotzdem ein Tötungsdelikt, da der Säugling ja noch geatmet hat. Nur wissen wir nicht, wer die Mutter ist.“

   „Das ist ja schrecklich. Wie lange lag es schon dort?“, wollte Anna wissen.

   „Maximal einen halben Tag, laut Rechtsmedizin.“  

   „Gab es irgendwelche Spuren am Fundort?“ Annas Vater schüttelte den Kopf. „Nein, wir haben absolut nichts gefunden. Es hatte aber auch vor dem Fund stark geregnet. Was uns nur stutzig macht, das Baby wurde nackt gefunden, keine Decke, kein Handtuch. Bei den meisten solchen Taten, wickeln die Mütter das Kind ein, bevor sie es irgendwo ablegen. Das ist schon irgendwie untypisch.“ Gerald Jäger schenkte noch einmal ein.

   „Und was hat es nun mit dem zweiten Fall auf sich?“, fragte Anna nach.

   „Seit vorgestern ist auch noch ein junges Mädchen verschwunden. Ihre Mutter hat sie noch am selben Abend als vermisst gemeldet, als sie nicht nach Hause gekommen ist. Wir haben bisher im näheren Umkreis gesucht und dort Leute befragt. Sie war wohl noch in der Schule und abends mit ein paar Freunden unterwegs gewesen. Das Problem ist, dass das Mädchen sich schon öfter einmal herumgetrieben hat. Sie macht wohl generell viel Blödsinn. Sie ist einmal morgens vollkommen betrunken nach Hause gekommen und sie war auch schon für einen Tag komplett verschwunden und hat die Schule geschwänzt. Aber bisher tauchte sie immer spätestens am nächsten Morgen wieder auf.“

   „Wie alt ist denn das Mädchen? Könnte sie vielleicht die Mutter des toten Babys sein?“, fragte Anna dazwischen.

   „Lisa ist siebzehn und ob sie eventuell die Mutter ist, wissen wir eben auch noch nicht. Niemand will etwas von einer Schwangerschaft mitbekommen haben, weder ihre Mutter, noch ihre Freunde. Aber solche Fälle hatten wir ja schon reichlich, dass die Mädchen von ihrer Schwangerschaft wirklich nichts wussten, oder sie einfach verdrängt haben.“

   „Eigenartig ist das schon. Ein Mädchen verschwindet und kurz darauf findet man die Leiche eines Neugeborenen. Hatte Lisa denn einen Freund?“, wollte Anna von ihrem Vater wissen.

   „Angeblich hatte sie keinen festen Freund, zumindest nicht aktuell. Das Baby befindet sich noch in der Rechtsmedizin. Ich hoffe, dass man uns bald sagen kann, wie alt es genau war. Die DNS Analyse müsste Morgen auch fertig sein, dann wissen wir, ob es Lisas Kind war.“

    „Oh okay, na da seid ihr aber schon fleißig gewesen“, staunte Anna.

Ihr Vater musste Lachen. „Was dachtest du denn? Dass du erst aus Berlin kommen musst, um uns auf die Sprünge zu helfen?“

   „Nein, natürlich nicht. So habe ich das doch gar nicht gemeint“, versuchte Anna, sich zu verteidigen. Ihr Vater lachte herzhaft weiter. Er nahm es ihr noch immer übel, dass sie sich nach Berlin hatte versetzen lassen. Sie wollte ja unbedingt in die große, weite Welt. Während Annas Vater sich noch immer über seinen vermeintlichen Gag freute, dachte Anna darüber nach, was es ihr eingebracht hatte. Einen angeschlagenen Schädel und einen Liebhaber, der sich als perverser Serienmörder entpuppt hatte. Anna zwang sich schnell, an etwas Anderes zu denken, schließlich war es vorbei.

   Ihre Mutter gesellte sich mit einem Glas Sekt zu ihnen in den Wintergarten. Anna plauderte über alles Mögliche mit ihren Eltern. Alles, was ihren letzten Fall betraf, vermied sie aber. Nach einer Stunde begann ihr Vater zu gähnen. Er sah ziemlich fertig und erschöpft aus.

   „So, wir gehen jetzt ins Bett. Ich muss Morgen wieder zeitig los. Dein Zimmer findest du ja“, verabschiedete sich ihr Vater.

Ihre Mutter drückte ihr noch einen Kuss auf die Stirn und folgte ihrem Mann in die obere Etage. Anna blieb mit ihrem Bier noch eine Weile im Wintergarten sitzen. Klaus leistete ihr Gesellschaft und ließ sich den Kopf kraulen. Sie starrte in den brennenden Kamin und erwischte sich dabei, wie sie an Alexander denken musste. War das nun gut oder schlecht? Zumindest musste sie nicht an Paul denken. Na toll, jetzt doch. Verdammt.

   Anna schaute spontan auf ihr Handy. Keine Nachricht. Was hatte sie auch erwartet? Sie goss sich noch einen Cognac ein und als das Feuer im Kamin heruntergebrannt war, ging sie ins Bett.

 

Lisa

 

   Lisa saß noch immer auf dem Bett. Sie konnte nicht sagen, wie viel Zeit mittlerweile vergangen war, seit der Mann den Raum wieder verlassen hatte. Sie schaute sich um. Es war ein kleiner Raum. Kleiner, als ihr Zimmer zu Hause.

   Die Wände und die Decke waren weiß gestrichen. Darunter war Rauputz. Der Fußboden war ebenfalls weiß und gekachelt. Es war so steril wie in einem Krankenhaus. Nur noch schlimmer. Keine Bilder, keine Blumen. Lisa konnte auch keine Fenster entdecken. Ihr gegenüber stand ein alter Holztisch mit einem Stuhl.

   Auf dem Tisch standen ein Glas Wasser und ein Teller mit einem halben Hähnchen und Pommes. Das musste er vorhin mitgebracht haben. Sicher war das Essen schon kalt. Aber das war egal, Lisa hatte eh keinen Hunger. Sie wollte einfach nur nach Hause zu ihren Eltern. Sie nahm all ihren Mut zusammen und stand auf.

   Schnell ging sie Richtung Tür und wurde erneut von der Kette zurückgehalten. Sie zog daran und stellte fest, dass sie länger war, als sie gedacht hatte. Irgendwie hatte sich die Kette um einen Fuß des Bettes gewickelt. Schnell lockerte Lisa sie und ging zu der Metalltür. Sie drückte vorsichtig die Klinke herunter. Nichts passierte. Es war natürlich abgeschlossen. Lisa beugte sich herunter und versuchte durchs Schlüsselloch zu schauen. Nur Dunkelheit. Erneut rüttelte sie an der Türklinke. Dann begann sie gegen die massive Tür zu schlagen. Immer kräftiger.

   Sie begann zu schreien. Immer lauter. „Hilfe! Bitte helft mir doch! Lasst mich hier raus!“ Niemand antwortete ihr. Sie konnte nichts hören. Keine Reaktion. Warum hörte sie von Franziska nichts? War sie überhaupt noch da? Lisa schrie solange, bis sie heiser wurde. Ihre Fäuste schmerzten wie verrückt.

   Plötzlich wurde ihr schwindelig. Alles drehte sich. Lisa wurde schwarz vor Augen und sie brach ohnmächtig zusammen. Kalt. Hart. Lisa blinzelte und öffnete ihre Augen. Sie lag auf den kalten Fliesen. Was war passiert? Sie schaute sich um und rappelte sich schnell auf. Irgendwie war ihr schwindelig und etwas übel. Langsam ging sie zurück zu dem Bett und setzte sich. Das half etwas. Es fiel ihr wieder ein. Sie war an der Tür, hatte geschrien und dagegen geschlagen. Dann war sie auf dem Fußboden aufgewacht. Durch die Tür kam sie definitiv nicht raus. Sie musste dringend einen anderen Weg hier herausfinden.

   Erneut schaute sich Lisa aufmerksam in dem Raum um. Rechts von ihr stand ein großer Kleiderschrank. Sie hatte ihn vorhin gar nicht bemerkt. Er sah furchtbar alt aus, so wie der von ihrer Urgroßmutter. Daneben sah Lisa noch eine zweite Tür. Sie ging hinüber und drehte den Knauf.

   Dahinter fand sie ein kleines Badezimmer. Falls man es überhaupt so bezeichnen konnte. Eine Toilette, eine schmale Dusche und ein winziges Waschbecken. Über dem Waschbecken hing ein Spiegel. Auf der kleinen Ablage unter dem Spiegel fand sie Duschbad, Zahncreme und eine Zahnbürste. Der ganze Raum war blau gekachelt und sah alt und schmuddelig aus. Lisa konnte sich in dem winzigen Zimmer kaum drehen. Trotzdem war sie erleichtert. Sie musste unbedingt aufs Klo. Lisa wusch sich die Hände. Neben dem Waschbecken hingen ein kleines und ein großes Handtuch. Sie ging zurück in das Zimmer, konnte nicht anders und schaute in den hässlichen Schrank. Darin lagen Unterwäsche, zwei paar Jeans, ein paar Pullover und T-Shirts.

   Was sollte das alles? Hatte der Mann vor, sie hier länger festzuhalten? Aber warum? Was wollte er denn von ihr? Hätte er sie töten wollen, dann hätte er es sicher schon getan. Lisa wusste nicht, ob sie das vorerst beruhigen sollte. Sie musste unbedingt noch einmal mit dem anderen Mädchen reden. Seit der Mann weg war, hatte sie nichts mehr von ihr gehört.

   „Franziska? Kannst du mich hören?“, rief Lisa leise. Sie wollte keinen Lärm machen und hoffte, dass Franziska sie trotzdem hörte. Aber es kam keine Antwort.

   „Hallo? Bitte antworte mir doch.“ Lisa hörte ein Husten. „Geht es dir gut Franziska?“

   „Lass mich einfach in Ruhe.“ Ihre Stimme klang ziemlich verheult.

   „Nein, das werde ich nicht. Ich will endlich wissen, was hier los ist. Was ist mit deinem Baby?“ Franziska begann nun wieder zu schluchzen.

   „Sie haben es mir einfach weggenommen. Es hat noch gelebt, es war nicht tot. Da bin ich mir ganz sicher. Genau wie bei meinem ersten Baby.“

   „Oh mein Gott“, rutschte es Lisa heraus. Sie hatten dem Mädchen die Babys weggenommen. Was sollte das alles? „Wie lange bist du denn schon hier?“

   „Seit über einem Jahr, denke ich. Ich war mit meinem ersten Baby schwanger, als ich hierhergebracht wurde“, antwortete Franziska.

Lisa konnte ihr nicht ganz folgen. Wieso hatte man ihr jetzt das zweite Baby weggenommen? War sie hier noch einmal schwanger geworden? Lisa überkam der ganz schreckliche Verdacht, dass Franziska hier wahrscheinlich vergewaltigt wurde. Aber sie traute sich nicht, sie zu fragen. Sie hatte Angst vor der Antwort, weil ihr womöglich dasselbe passieren würde.

 

 

***


Bestrafung

Der dritte Fall für Anna Jäger

 

Anna Jäger, Hauptkommissarin aus Berlin, ist unterwegs in den wohlverdienten Feierabend, als ihr ein nackter Mann direkt vor das Auto läuft. Entsetzt muss sie feststellen, dass ihm der Penis abgeschnitten wurde. Der Unfall rettet dem Mann das Leben. Und prompt steckt Anna Jäger auch schon in einem neuen Fall. Das nächste Opfer hat allerdings nicht so viel Glück. Die Jagd nach dem Trophäen sammelnden Mörder beginnt…

 

Softcover  (Taschenbuch)                                                         eBook

Seitenzahl: 323 Seiten

 

Preis:          10,69 €                                                                      Preis: 3,99 €


Leseprobe: Bestrafung

Kapitel 1

 

Das erste Opfer - Christian Mayer

 

   Christian Mayer erwachte allmählich aus seiner Ohnmacht. Um ihn herum herrschte vollkommene Dunkelheit und Stille. Er fragte sich, ob es so etwas überhaupt gab. Seine Augen waren geöffnet, aber er konnte nichts sehen. Er war verwirrt und irritiert. Mit einem Mal war ihm warm, obwohl er gleichzeitig fror. Das war definitiv nicht normal. Verzweifelt versuchte er, sich zu erinnern, was passiert war. Aber da war nichts. Sein Gehirn war vollkommen leer. Es fühlte sich so an, als ob er schweben würde. Anders konnte er seinen momentanen Zustand nicht beschreiben. Was war hier los? Ihm war klar, dass irgendetwas nicht stimmte. Aber er war nicht in der Lage zu sagen, was verkehrt lief. In seinem Kopf rotierte es.

   Schlagartig wurde ihm bewusst, dass er nicht dort war, wo er eigentlich sein sollte. Aber wo befand er sich hier? Was war passiert? Er war doch eben noch im Krankenhaus gewesen und man hatte erst seine Schulter operiert. Nun lag er definitiv nicht mehr in seinem Krankenhausbett. Soviel stand fest. Der Untergrund unter seinem zitternden Körper fühlte sich hart, kalt und nass an. Es roch nach Wald und er fror fürchterlich. Seine Finger tasteten vorsichtig über den Boden. Waren das etwa Erde und Gras? Wie konnte das sein? Was war nur mit seinen Augen los? Warum konnte er nichts sehen? Vorsichtig hob er seinen rechten Arm und tastete über sein Gesicht. Ein Tuch war um seinen Kopf gebunden und verdeckte seine Augen. Er hatte große Mühe, es sich vom Gesicht zu ziehen. Seine Hand wollte ihm noch nicht wirklich gehorchen.

   Nach einer Weile hatte er es endlich geschafft und konnte nun wieder etwas sehen. Er blickte direkt in den Himmel und sah die leuchtenden Sterne. Die Nacht war bereits hereingebrochen. Wie lange lag er schon hier? Er sah Baumkronen und es roch nach frisch gemähtem Gras. Er fragte sich erneut, wo er hier war und wie er bloß hierhergekommen war? Vorsichtig drehte er seinen Kopf nach links und konnte in der Ferne ein paar schwache Lichter erkennen. Es fiel ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Obwohl er sich noch immer betäubt fühlte, hatte er dennoch plötzlich starke Schmerzen. Aber diese stammten definitiv nicht von der frisch arthroskopierten Schulter. Das spürte er. Wo genau sie aber herkamen, konnte er nicht ausmachen. Angst überkam ihn. Er brauchte Hilfe.

   „Hallo?“, rief er in die Nacht. Aber es antwortete ihm niemand. Christian wollte aufstehen, doch das funktionierte nicht. Seine Beine fühlten sich taub an und er konnte sie nicht bewegen. Wie kann sich etwas taub anfühlen, wenn man ja eigentlich gar nichts fühlt? Oder war es genau dieses Gefühl, dass man eben nichts spürt? Seine Gedanken überschlugen sich. Schlagartig stieg Panik in ihm auf. Was hatte man mit ihm angestellt?

   Seine Arme konnte er etwas bewegen, aber die Beine nicht. Das war doch mehr als komisch. Oder war das vielleicht einfach nur ein schlimmer Traum? Das musste es sein. Er träumte diesen ganzen Mist nur. Er überlegte angestrengt. Seine Frau hatte ihn am Nachmittag nach der Operation besucht. Daran konnte er sich jetzt wieder erinnern. Dann war die Schwester mit dem Abendessen gekommen. Er hatte die zwei Scherztabletten geschluckt, die in dem Becher auf dem Tablett gelegen hatten. Aber die lösten doch nicht solche Träume aus.

   Nein! Blödsinn! Das war definitiv kein Traum. Auch wenn im Moment alles irgendwie vernebelt schien, wusste er doch, dass es Realität war. Christian konnte den Wald sehen und riechen. Er spürte ihn unter sich. Das war alles echt. Es war Realität. Er war sich nun ziemlich sicher, dass man ihn betäubt haben musste und dann hierhergebracht hatte.

   Ihm fiel der Tee wieder ein. Der hatte schon irgendwie etwas eigenartig geschmeckt. Hatte man ihm eventuell ein Betäubungsmittel hineingetan? Aber warum, und vor allem wer? Behutsam stützte sich der Mann auf seine Arme und konnte sich so etwas aufrichten. Seine Augen gewöhnten sich allmählich an das schwache Licht. Christian schaute langsam an sich herunter. Er trug nur ein Krankenhaushemd. Das konnte aber nicht stimmen. Das war definitiv falsch. Er hatte sich vorhin mit Boxershorts und T-Shirt ins Bett gelegt. Das wusste er ganz genau. Versuchte hier jemand, ihm einen bösen Streich zu spielen? Aber warum? Das Ganze war doch einfach nur krank. Erneut versuchte er, aufzustehen. Er musste hier ganz dringend weg, irgendwohin, wo er in Sicherheit war. Mayer wollte einfach nur nach Hause oder zurück ins Krankenhaus. Das war ihm vollkommen egal.

   Nach einer kurzen Weile und etwas Anstrengung konnte er endlich die Zehen wieder bewegen. Das war doch gut, lobte er sich selbst. Mit dem zurückkehrenden Gefühl in seinen Beinen verstärkte sich auch prompt wieder der Schmerz. Wo kam das nur her? Allmählich kehrte auch die Wärme langsam in die Beine zurück. Irgendetwas stimmte aber nicht. Kamen die Schmerzen von seiner Hüfte? Nein, das war es nicht. Dort schien alles in Ordnung zu sein. Dann sah er es. Da war ein dunkler Fleck auf dem Krankenhaushemd. Genau an der Stelle zwischen seinen Beinen. Es war ein beängstigend großer Fleck. Was zum Teufel war das? Seine Hand glitt vorsichtig unter das Hemd und tastete.

   Christian schrie so laut, wie er noch nie in seinem Leben geschrien hatte. Hatte er überhaupt schon einmal geschrien? Jetzt konnte er nicht anders. Es kam spontan. Er konnte gar nicht mehr aufhören. Während er brüllte, realisierte er erst richtig, was passiert war.

   Da war nichts mehr. Er tastete und befühlte die Stelle erneut mit seinen Fingern. Aber da gab es nichts mehr zu Ertasten. Da gab es nur etwas unangenehm Klebriges und etwas, dass sich wie eine fleischige Wunde anfühlte. Warmes, feuchtes Blut klebte nun an seiner Hand. Er wollte es nicht akzeptieren. Aber es war bittere Tatsache. Jemand hatte ihm den Penis abgeschnitten. Der Mann kippte nach hinten und verlor das Bewusstsein.

  Einen kurzen Moment später kam er wieder zu sich. Für zwei Sekunden war er völlig orientierungslos und wusste nicht, was eigentlich geschehen war. Die Schmerzen holten ihn jäh zurück in die Realität. Er brauchte jetzt unbedingt einen Arzt, sonst würde er hier elend verbluten.

   „Warum?“, schrie er verzweifelt in die Nacht. Aber eine Antwort erhielt er nicht. Hier würde ihm auch sicher niemand zu Hilfe kommen, egal, wie laut er schreien würde. Er musste hier unbedingt weg. Raus aus dem Wald, auf die Straße.

   Vorsichtig versuchte er, aufzustehen. Seine Beine wollten ihm noch immer nicht richtig gehorchen. Trotz der starken Schmerzen biss er die Zähne zusammen und versuchte es erneut. Beim zweiten Anlauf klappte es auch tatsächlich. Direkt vor ihm stand ein knochiger Baum. Christian stolperte auf ihn zu. Er konnte sich zum Glück daran festhalten. Erleichtert lehnte er sich dagegen und rang nach Luft.

   Nun musste er dringend die Blutung stoppen und damit verhindern, noch mehr Blut zu verlieren. Das wäre sonst sein Ende. Mayer zog sich das Krankenhaushemd aus und band es sich fest um seine Hüften. Dann drückte er mit seinen Händen gegen die noch immer blutende Wunde. Er atmete tief durch und taumelte zitternd auf die Lichter zu, die er zwischen den Bäumen wahrnehmen konnte. Es war kein Gehen, sondern eher ein wackeliges Torkeln und Wanken. Jeder einzelne Schritt verursachte ihm unerträgliche Schmerzen. Aber er musste unbedingt weitergehen.

   Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Mit der linken Hand drückte er auf die Wunde und mit der rechten Hand stützte er sich an den Bäumen ab. Mayer spürte die feuchte, kalte Erde unter seinen nackten Füßen. Die Kälte stieg erbarmungslos seinen Körper hinauf. Lange würde er es sicherlich nicht mehr aushalten. Die Schmerzen machten ihn fast wahnsinnig. Wie betäubt quälte er sich weiter. Es konnte nicht mehr weit sein. Ganz deutlich konnte er nun die vorbeifahrenden Autos hören. Dort vorn musste die Straße sein. Da musste er hin und würde bestimmt Hilfe finden.

   Er wankte weiter von Baum zu Baum. Ihm wurde schwindelig und er hatte große Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Sein ganzer Körper schmerzte, aber er musste weiter. Die Lichter kamen langsam immer näher. Hoffnung stieg in ihm auf. Er hatte doch noch eine reale Chance. Wenn er es rechtzeitig zur Straße schaffen könnte, würde er vielleicht überleben.

   Christian spürte, wie das Serotonin durch seinen Körper flutete. Es war ein gutes Gefühl. Es beruhigte ihn. Er würde es schaffen. Das war er sich nun ganz sicher.

 

Anna

 

   Anna Jäger war gerade auf dem Heimweg und hatte es ziemlich eilig. Alexander hatte sich spontan zum Abendessen eingeladen und Anna musste unbedingt noch etwas aufräumen.

   Sie war erst seit ein paar Tagen wieder zurück aus dem Harz und hatte es noch nicht geschafft, in ihrer Wohnung wirklich Ordnung zu schaffen. Eigentlich war das überhaupt nicht ihre Art. Aber der letzte Fall hatte sie ziemlich mitgenommen und beschäftigte sie noch immer unterbewusst.

   Auch die Kater nahmen es ihr noch immer übel, dass sie sie so lange allein gelassen hatte. Sie hatte gehofft, dass es dieses Mal nicht so sein würde, da sich ihre Nachbarin ja bestens um sie gekümmert hatte. Irgendwie hatten sie es nun tatsächlich geschafft, alle losen Dinge, die sie fanden, in der ganzen Wohnung zu verteilen. Das waren Kugelschreiber, Feuerzeuge, Teelichter, sogar ein Waschlappen wurde Opfer ihrer Strafaktion gegen ihren Dosenöffner.

   Anna fand die Sachen nun an den unmöglichsten Stellen wieder. Sie hoffte nur, dass sie nicht noch auf die dumme Idee kamen, ihren Frust an der neuen Ledercouch auszulassen. Morgen würde sie ihnen etwas Neues zum Spielen besorgen, dann beruhigten sie sich vielleicht wieder.

   „Verdammt!“, fluchte Anna laut, als das grelle, rote Licht aufblitzte. Schnell trat sie auf die Bremse und reduzierte die Geschwindigkeit, bis sie die Fünfzig erreicht hatte. Nicht schon wieder! Das passierte ihr ständig an dieser Stelle. Aus irgendeinem Grund vergaß sie diesen Blitzer immer wieder. Das war einfach nur wahnsinnig nervig. Sie wusste nicht mehr, wie viel sie auf dem Tacho hatte. Mit vorgeschriebener Geschwindigkeit fuhr sie nun weiter. Nach zweihundert Metern blinkte sie und bog dann nach rechts ab.

   Plötzlich stand er direkt vor ihr auf der Straße. Anna trat so fest auf die Bremse, dass sie das Gefühl hatte, mit ihrem rechten Fuß direkt die Fahrbahn zu berühren. Die Bremsen quietschten laut und der Wagen kam ins Schlingern. Anna startete rasch einen Ausweichversuch und riss das Lenkrad herum. Aber es war bereits zu spät. Der Mann landete direkt auf der Motorhaube ihres Wagens und rutschte auch gleich wieder hinunter. Das Auto kam endlich zum Stehen. Anna schaltete instinktiv die Warnblinkanlage an, riss blitzschnell die Tür auf und rannte zu dem Mann, der bewegungslos vor ihrem Wagen am Boden lag. Gleichzeitig wählte sie mit ihrem Handy die Notrufnummer. Der Mann lag auf der Seite und bewegte sich nicht. Erstaunt stellte Anna fest, dass der Mann nackt war. Nein, das stimmte nicht ganz. Er hatte sich etwas um die Hüfte gewickelt hatte. Sonst trug er aber nichts. 

   „Hallo? Können Sie mich hören?“, fragte Anna, griff nach seinem Handgelenk und fühlte seinen Puls. Er war schwach, aber vorhanden. Sie berührte den Verletzten vorsichtig an der Schulter. Er stöhnte leise. Anna fühlte sich unendlich erleichtert und atmete tief durch.

   „Bleiben Sie bitte ruhig liegen! Gleich kommt Hilfe.“ Erneut folgte ein leises Stöhnen. Sie wollte ihn lieber nicht bewegen, falls er innere Verletzungen oder Brüche hatte.

   „Helfen Sie mir, bitte“, flüsterte der Mann nun. „Ich verblute.“ Anna hatte Mühe, ihn zu verstehen.

   „Blut“, wiederholte er. Sie schaute ihn sich genauer an. Sie sah nur eine kleine Platzwunde an der Stirn. Daran würde er mit großer Wahrscheinlichkeit nicht verbluten. Stand der Kerl vielleicht unter Drogen und war aus irgendeinem Krankenhaus abgehauen? Das würde zumindest seinen eigenartigen Aufzug erklären.

   „Blut“, flüsterte er noch einmal. Anna konnte aber noch immer nichts erkennen. Wo blieb nur der verdammte Rettungswagen?

   Das fast nackte Unfallopfer zitterte vor Kälte. Also zog Anna rasch ihre Jacke aus und legte sie ihm um die Schultern. Dann nahm sie die Hand des Mannes in ihre und drückte sie fest. Das würde ihn hoffentlich etwas beruhigen.

   Abrupt packte er ihre Hand ganz fest. Er führte sie über seinen Bauch nach unten und legte sie direkt in seinen Schritt. Anna riss sie unwillkürlich zurück. Was sollte das denn jetzt? Wie war dieser Typ denn drauf?

   „Blut“, wiederholte er leise und drehte sich ganz langsam auf den Rücken. Erst jetzt sah Anna den großen, bräunlich roten Fleck zwischen seinen Beinen.

   „Heilige Scheiße“, rutschte es ihr heraus. Was war das denn? Das konnte doch nicht von dem Unfall stammen. Anna löste ganz vorsichtig das Hemd, das um seine Hüfte geschlungen war. Sie erschrak und schluckte. Ihr Magen rebellierte abrupt, aber sie riss sich schnell wieder zusammen. Sie schluckte die aufsteigende Übelkeit hinunter. Das, was sie sah, war definitiv nicht das, was sie eigentlich an dieser Stelle erwartet hatte. Überall war Blut. Aber das war noch nicht das Schlimmste. Jemand hatte diesem Mann den Penis direkt an der Wurzel abgeschnitten. Die Wunde blutete stark. Es grenzte an ein Wunder, dass der Mann überhaupt noch lebte. Wenn der Rettungswagen nicht bald kam, würde er nicht mehr lange durchhalten.

   Anna sprang schnell auf und rannte zu ihrem Wagen. Sie holte den Verbandskasten und die Decke aus dem Kofferraum und lief dann wieder zurück zu dem verletzten Mann. Sie kniete sich neben ihn und legte ihm die wärmende Decke über den Oberkörper. Abbinden, schoss es ihr durch den Kopf. Für einen kurzen Moment hielt sie inne. Hier gab es ja gar nichts zum Abbinden. Verdammte Scheiße! Anna öffnete den Verbandskasten und kramte alles heraus, bis sie endlich fand, wonach sie suchte. Sie griff nach den Kompressen und Mullbinden. Rasch riss sie die Verpackungen auf und legte sämtliche Kompressen auf die blutende Wunde. Dann drückte sie mit ihrer Hand darauf. Der Mann schrie auf vor lauter Schmerzen.

   „Es tut mir leid. Aber nur so kann ich Ihnen helfen“, sagte Anna schnell und drückte weiter auf die massive Verletzung zwischen seinen Beinen. Endlich konnte sie die Sirene des Rettungswagens hören.

   „Wer hat Ihnen das angetan?“, fragte sie automatisch den Mann, der vor ihr auf der kalten Straße lag. Er antwortete nicht mehr.

   „Hierher!“, rief Anna laut. Prompt waren die Sanitäter auch schon bei ihr. „Er ist mir direkt in den Wagen gelaufen. Ich habe ihn notdürftig versorgt, so gut, wie ich eben konnte. Jemand hat ihm den Penis abgeschnitten“, erklärte Anna eilig den Sanitätern. Die starrten sie nun völlig entsetzt und ungläubig an.

   „Na ich war das nicht“, fügte sie schnell hinzu. Dann übernahmen die Rettungsmänner. Einer spritzte dem Verletzten etwas und legte ihm eine Infusion an. Der andere Sanitäter kümmerte sich um die blutende Verletzung. Anna trat ein paar Schritte zurück und ließ die Männer ihren Job machen. Kurz darauf traf auch der Notarzt ein. Der Angefahrene wurde versorgt und stabilisiert. Nach knapp fünf Minuten luden sie den verletzten Mann in den Rettungswagen.

   Einen kurzen Moment später tauchten auch die Kollegen von der Verkehrspolizei auf. Anna kannte die beiden Beamten nur flüchtig vom Sehen. Also zückte sie ihren Dienstausweis und erklärte ihnen, was passiert war. Sie starrten sie nun genauso ungläubig an, wie kurz zuvor die Männer vom Rettungswagen.

   Sah sie denn wirklich so aus, als ob sie einem wildfremden Mann einfach den Penis abschneiden würde? Die Polizisten sperrten die Straße ab und machten dann Bilder von ihrem Wagen und dem Unfallort. Die Bremsspur wurde vermessen.

   Anna erklärte den Kollegen, dass sie sich weiterhin um das Opfer kümmern würde, auch wenn es nicht wirklich ihr Zuständigkeitsbereich war. Sie wollte unbedingt herausbekommen, wer dem Mann diese schreckliche Verletzung zugefügt hatte. Schnell rief sie einen Kollegen des LKA 1 an. Wenn alles klappte, würde er die Zuständigkeit klären und Wolfgang und ihrem Team eine Mitarbeit erlauben. Das hieß, dass sie wohl einen neuen Fall hatte. Der Mann konnte letztendlich froh sein, dass er noch lebte und Anna hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie ihn angefahren hatte. Sie musste unbedingt wissen, wie es mit ihm weitergehen würde.

   Ihr geplantes, heutiges Date mit Alexander hatte sich damit erledigt. Sie rief ihn schnell an und erklärte ihm, was geschehen war.

   „Das ist nicht dein Ernst?“, fragte er skeptisch am anderen Ende der Leitung. Seinen Gesichtsausdruck konnte sie sich lebendig vorstellen und wünschte sich, dass sie ihn heute Abend hätte sehen können. Aber der verletzte und angefahrene Mann war im Moment wichtiger.

   „Allerdings. Ich fahre jetzt gleich ins Krankenhaus und versuche herauszubekommen, warum mir der Mann einfach ins Auto gelaufen ist. Ich melde mich bei dir. Bis später. Ich liebe dich.“ Anna beendete das Gespräch und ging zurück zum Unfallort. Sie fröstelte und schlang ihre Arme um den Oberkörper. Ihre Jacke lag noch auf der Straße neben dem Verletzten. Sie holte sie, aber wollte sie nicht anziehen.

   „Wir sind soweit und bringen ihn jetzt in die Notaufnahme“, rief ihr der Notarzt zu. Anna nickte und ging zurück zu ihrem Wagen. Ihr Fahrzeug wurde von den Kollegen freigegeben. So konnte sie dem Rettungswagen folgen.

   Sie hatte große Mühe, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Die Sanitäter rasten durch die abendlichen Straßen von Berlin. Allerdings hätte sie auch so schlau sein können, sich bei den Männern zu erkundigen, in welches Krankenhaus sie den Verletzten brachten.

   Zehn Minuten später war sie endlich am Ziel angekommen. Und das sogar, ohne nochmals geblitzt zu werden. Der Rettungswagen fuhr direkt bis zur Notaufnahme. Anna parkte in der Straße gegenüber. Dann lief sie ihnen hinterher. Sie konnte gerade noch sehen, wie man das Opfer in den OP-Bereich schob. Jetzt hieß es Warten. Nein! Anna konnte und wollte nicht warten. Sie musste unbedingt wissen, woher der Mann gekommen war. Die Operation würde sicherlich eine ganze Weile dauern. Diese Zeit konnte sie sinnvoll nutzen. Sie hoffte, dass der Mann überleben würde.

   Anna gab ihre Karte in der Notaufnahme ab. Wenn man dort mehr wusste, sollte man sie umgehend anrufen. Sie lief zu ihrem Wagen und fuhr zurück zum Unfallort. Auf dem Weg dorthin rief sie ihren Kollegen Carsten an. Wie es aussah, hatten sie ja nun einen neuen Fall. Wäre der Mann nicht in ihr Auto gelaufen, wäre er mit sehr großer Wahrscheinlichkeit verblutet. Was hatte er auf der Straße zu suchen gehabt? Warum hatte er nur dieses Krankenhaushemd getragen? Woher war er eigentlich gekommen? Anna hatte ja schon viel erlebt. Aber sie hatte noch nie jemanden angefahren. Schon gar nicht jemanden, dem man gerade den Schwanz abgeschnitten hatte.

   Anna schossen tausende Gedanken durch den Kopf. Vielleicht war es seine betrogene Ehefrau oder eine verschmähte Geliebte, die ihm das angetan hatte. Oder er hatte es selbst gewollt. Nein! Das glaubte sie nicht. Er hatte vorhin zu panisch reagiert. Es hatte keineswegs so gewirkt, als ob er sein bestes Teil aus freien Stücken hergegeben hätte.

   Wer lässt sich schon freiwillig den Schwanz abschneiden und springt dann auch noch vom OP-Tisch? Genau das war der Knackpunkt. Warum trug er ein OP-Hemd? Oder war es vielleicht doch das Resultat perverser Sexspiele, die irgendwie danebengegangen waren? Tja, das galt es nun zu klären.

   Anna parkte unmittelbar in der Nähe des Unfallortes. Die Kollegen der Verkehrspolizei waren mittlerweile schon wieder weg. Alle markanten Punkte des Unfalls waren entsprechend markiert. Anna war sich allerdings sicher, dass es nicht nur ein reiner Unfall war. Da steckte definitiv mehr dahinter.

   Also stieg sie aus und schaute sich erst einmal um. Dort drüben war ihr Wagen vorhin zum Stehen gekommen. Und gleich daneben sah sie die Markierung, wo der angefahrene und verletzte Mann gelegen hatte. Anna ging ein paar Schritte zurück und betrachtete alles vom Bordstein aus. Dann schloss sie ihre Augen und ließ das Geschehene Revue passieren.

   Der Mann war definitiv von rechts gekommen, glaubte sie sich zu erinnern. Allerdings konnte sie in diesem Bereich weder ein Krankenhaus noch ein Wohnhaus ausmachen. Hier befand sich lediglich ein Waldstück. Anna konnte die Bäume, das Laub und die Erde riechen. Diese Gerüche erinnerten sie an ihre Kindheit. Wie hatte sie es geliebt, mit ihrem Großvater durch Wälder des Harzes zu spazieren.

   Für einen kurzen Moment war Anna wieder dort. Sie war wieder fünf Jahre alt und stapfte durch den herbstlichen Wald. Morsche Zweige knackten unter ihren Füßen. Das Laub stob wild auf, sobald sie kräftig mit ihren Füßen hineinsprang. Sie trug einen kleinen Korb, geflochten aus gelbem Bast. Das Messer durfte sie aber nicht tragen. Das verwahrte stets ihr Großvater, der hinter ihr herlief. „Da ist einer und der sieht ganz hübsch aus. Kein Reh hat ihn angeknabbert“, hatte sie ganz stolz gerufen. „Ja. Aber das ist ein Fliegenpilz.“ Ihr Opa hatte damals laut gelacht. Das hätte sie wissen müssen. Rot mit weißen Punkten. Er hatte doch so schön ausgesehen.

   Ein laut hupender schwarzer Porsche Macan donnerte an ihr vorbei. Erschrocken sprang sie einen Schritt zurück. „Arschloch“, rief sie dem verantwortungslosen Raser hinterher. Prompt befand sie sich wieder in der Realität.

   In ihrem Kopf formulierten sich die wichtigen Fragen. Wie zum Teufel war der Mann also in diesen Wald gekommen? Wer hatte ihn so verstümmelt? Das war doch alles sehr eigenartig.

   Anna ging zurück zu ihrem Wagen. Während sie auf Carsten wartete, rief sie in den umliegenden Krankenhäusern an und erkundigte sich, ob dort irgendwo ein Patient vermisst wurde. Jedoch ohne Erfolg. Das wurde allmählich immer mysteriöser.

 

 

***

 

Bedrängnis

 

Der vierte Fall für Anna Jäger

 

 

Anna Jäger, Hauptkommissarin aus Berlin, hat sich entschieden, zurück in ihre alte Heimat zu ziehen. Kaum im Harz angekommen, schlittert sie mit neuen und alten Kollegen in eine Mordserie. Zunächst hat es den Anschein, dass es sich um Unfälle handelt, doch schnell müssen sie feststellen, dass dem nicht so ist. Eine junge Frau, die alle Opfer kannte, scheint im Mittelpunkt zu stehen. Es gilt, ihr Geheimnis zu lüften…

 

 

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